###  Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Ralf Birk. ###

Ötztaler. Voller Ehrfurcht wird dieser Begriff mit getragener Stimme genannt. Jeder, der ihn hört, verspürt Schmerzen. Aus Solidarität? Aus Erfahrung? Egal, es sind Schmerzen. Der Slogan zum diesjährigen 40. Ötztaler Radmarathon erwies sich (für mich) als nicht übertrieben…

Doch von Anfang an…

Bereits Anfang der Woche machte die Nachricht die Runde, dass wegen eines Felsbruches Richtung Kühtai die eigentliche Strecke so nicht befahren werden kann. Im Internet kursierten die unterschiedlichsten Ausweichstrecken, so dass es schwer war, sich auf diese Neuerung einzulassen. Ich bin dann am Mittwoch (bei schönstem Wetter) angereist, um mich an die Höhe anzupassen und den 2. Teil vom Timmelsjoch vorab schon mal Probe zu fahren. Im Nachhinein hat sich das als goldrichtig erwiesen und kann jedem nur empfehlen, es ähnlich anzugehen wenn die Tour das erste Mal absolviert werden soll.

Nachdem ich Donnerstag vom Timmelsjoch (ebenfalls bei schönstem Wetter) zurück war, wurde im Netz vom Veranstalter die offizielle Ausweichstrecke über den Haiminger Berg bekannt gegeben. Unterm Strich bedeutete diese Entscheidung, 10 km mehr Anfahrt und gute 250 Meter mehr an Höhenmetern am ersten Anstieg zu bewältigen waren. Danach ging es dann weiter auf der Originalstrecke hoch zum Kühtai.

Super, für mich als 81kg Bergziege genau das richtige, dachte ich. Aber damit hätte ich noch irgendwie gut leben können, ohne mich komplett verrückt zu machen. Bei so einem Event schaut man natürlich regelmäßig in die Wetterprognose, und die verhieß wahrlich nichts Gutes. Für den gesamten Sonntag waren Temperaturen im unteren einstelligen Bereich angesagt und generell Regen. Was an den Pässen mit 2.000 bis 2.500 Höhe demnach auch Schnee bedeutet. Regen. Schnee. Nicht wirklich die besten Freunde eines Cyclisten.

Damit war meine Motivation erst einmal am Tiefpunkt angelangt. Ich war so bedient, dass ich sogar schon einen Plan B überlegt hatte. Mit Familie und der Arbeit abgeklärt, ob ich die Woche danach noch freimachen kann, denn in der Woche nach dem Rennen wurde die Wetterprognose wieder deutlich besser mit an die 20 Grad und Sonnenschein am Donnerstag. Somit hätte ich auf den Start beim Rennen verzichtet und wäre am Donnerstag danach die Runde in Eigenregie gefahren. Hätte Hätte Fahrradkette…

Ich wartete einfach den Sonntagmorgen ab und wollte dann spontan entscheiden. Und Gott sei Dank, es war trocken, als ich nach unruhiger Nacht gegen 4 Uhr aus dem Fenster guckte. Kühle 5 Grad aber trocken! Damit war die Entscheidung gefallen, ich werde den Spaß auf jeden Fall mal in Angriff nehmen. Wobei Spaß hier schon ein wenig sarkastisch klingt. Der „Spaß“ wurde noch auf die harte Probe gestellt.

Gegen 05:45 Uhr in völliger Dunkelheit ging es dann Richtung Startaufstellung. Zum Glück hatte ich mir am Vortag noch extra dicke, wind- und wasserdichte Handschuhe sowie eine Mütze für unter den Helm gekauft. Auch dies war eine goldrichtige Entscheidung im Nachhinein! Punkt 06:30 Uhr fiel der Startschuss. Meine Nebenfrau meinte noch, das kann jetzt noch 20 Minuten dauern, bis es für uns losgeht. Ja nee is klar, super, da steht man schon ’ne dreiviertel Stunde in der Kälte im Startblock und dann nochmal so lange warten, bis es losgeht?!? Aber keine 4 Minuten später bewegte sich das Feld direkt vor uns, und das „Rennen“ ging los. Und zwar recht zügig von Anfang an.

Die ersten 30 km bis Ötz mit sage und schreibe 50er Schnitt für mich. Geile Sache kann ich da nur sagen. So macht der Ötzi ja doch Spaß. Anstatt jetzt abzubiegen Richtung Kühtai ging es weitere knapp 10 km bis zum Haiminger Berg. Im Vorfeld hieß es immer, dass es dort chaotisch und gefährlich zuginge. Die Leute hielten einfach kurz vorm Berg mitten auf der Straße an, um sich umzuziehen usw. Aber ich muss sagen, dieses Mal lief alles sehr diszipliniert ab. Jeder fuhr vernünftig an die Seite in Parkbuchten oder auf den Gehweg, und dort wurde sich, ohne die anderen Fahrer zu behindern, umgezogen.

Ich entschloss mich auch mehrere hundert Meter vor dem Anstieg meiner Windjacke, Mütze und Handschuhe zu entledigen. Dann ging es direkt in den Anstieg mit 10% im Schnitt auf die nächsten 10 km. Leider ließ ich mich von der Euphorie und Masse mitreißen, und meine Pace war über meiner eigenen Vorgabe. Nach 30 Minuten hat mich mein Körper dran erinnert, so dass ich im wahrsten Sinn des Wortes einen Gang herunterschalten musste.

Ich fuhr mein Tempo und nach langen, harten Kilometern erreichte ich das erste Zwischenziel bei Ochsengarten. Eine kurze Abfahrt von ca. 2 km brachte etwas Erholung, und danach ging es auf der Originalstrecke weitere 8 km hoch zum Kühtai. Die Temperaturen fielen Richtung Gefrierpunkt, aber ich muss gestehen, dass war bei der Anstrengung nicht wirklich ein Problem. Bis jetzt war ich gut in Schuss.

Nach insgesamt 60 km und einer Fahrzeit von 3 Stunden war Berg Numero Uno erledigt. Oben angekommen, die Masse an Menschen an der Verpflegungsstation gesichtet, habe ich spontan entschieden, nur kurz Windjacke/Mütze und Handschuhe anziehen und ab in die lange Abfahrt, ohne meine Trinkflaschen aufzufüllen. Eine Trinkflasche mit 500ml hatte ich ja noch. Um es vorweg zu nehmen: Doofe Idee. Ganz doofe Idee. Dies war wohl mein entscheidendster Fehler, neben dem Überpacing anfangs des Haiminger Bergs.

 

Die Abfahrt an sich war perfekt. Hohes Tempo, nur Leute überholt und einfach geil zu fahren. Es blieb weiterhin trocken und die Kälte selbst war kein allzu großes Problem bei dem ganzen Adrenalin.

 

Nach 25 km erreichte ich Kematen, und es ging zunächst für 12 km flach in einer schön homogenen Gruppe in Richtung Innsbruck. Ab hier folgte die lange, stetig ansteigende Fahrt zum Brenner. Auch hier hieß es im Vorfeld, nicht überpacen und notfalls Gruppen ziehen lassen. Die nächste Gruppe kommt bestimmt. So war es auch. Ich hatte nicht mehr genügend Trinken und merkte, das wird nicht nur nicht knapp, sondern eigentlich nie und nimmer reichen bis zur nächsten Labestation am Brenner. Aber im Race-Feeling habe ich nur daran gedacht, die jeweilige Gruppe wenigstens auf den flachen Passagen zu halten, was mir auch ganz gut gelang. An den Steigungen musste ich immer abreißen lassen und mein Tempo fahren. Eine echte Bergziege bin ich vielleicht doch nicht so…

Nach gut 2:30 Stunden ab dem Kühtai habe ich dann meine/unsere persönliche Verpflegungsstation von Speedville (www. speed-ville.de ) erreicht. (An der Stelle vielen Dank an Kenny und Laurin!!) 3 Flaschen voll aufgeladen, oben herum trockene Sachen angezogen, und dann ging es abwärts Richtung Jaufenpass.

Aber ich merkte schon, dass es verpflegungstechnisch nicht optimal gelaufen ist. Vom Kühtai bis zum Brenner mit nur einer kleinen Trinkflasche war definitiv zu wenig. Ein schwerer Fauxpas. Die Abfahrt vom Brenner war mit 17 km relativ kurz und schmerzlos. In Sterzing angekommen war es sonnig, und man kann sogar sagen leicht warm. Die Lebensgeister hat’s gefreut.

Daher vor dem Anstieg zum Jaufenpass wieder alle Klamotten runter und ab in den Anstieg. Die ersten 2 Kilometer lief es noch nach Plan, aber dann machten sich leider die ersten Krämpfe bemerkbar. Ich konnte meine Wattvorgaben nicht mehr halten und musste im unteren GA1 Bereich bleiben, um die Krämpfe möglichst im Griff behalten zu können. Dehnen auf dem Rad klappte nicht so richtig. Daher musste ich immer mal wieder kurz anhalten, die Beine richtig durchdehnen, und dann ging’s wieder langsam weiter. Betonung liegt auf langsam. Die Aussicht, sich so die nächsten 14 km bergauf zu quälen, hielt meinen Spaß und Euphorie in Grenzen. Aber ich habe es dann doch tatsächlich irgendwie geschafft, oben anzukommen.

 

Aber wie soll es jetzt weitergehen? Es steht eine längere Abfahrt an. Die sollte ja noch machbar sein. Aber dann stand der längste und vermeintlich schwierigste Anstieg zum Timmelsjoch an mit 28 km und 6,8%. Nur mit diesem Wissen hätte ich das Ganze wohl vorher abgebrochen. Aber mit meinem Wissen ging es dann so (habe ja meine Probefahrt gemacht). Ich wusste, dass das Timmelsjoch in insgesamt 2 Anstiege aufgeteilt ist. Die ersten 14 km bis Schönau, dann ca. 4 km flach(er), dann genau 8,7 km berghoch und die letzten 3 km flach(er). Von den ersten 14 Kilometern sind die ersten 4 wiederum recht flach. Einmal kurz Kopfrechnen angesagt (gar nicht so einfach bei der Belastung). Also für den ersten Teil habe ich ja „nur“ ca. 10 km Anstieg bis Schönau, wo auch eine Labestation auf mich wartet. Mental klingen erstmal „nur“ 10 km Anstieg deutlich angenehmer als 28 km…

Also los geht’s. Der flache Einstieg ging ohne Probleme, ab dem eigentlichen Anstieg und dem Versuch, meine Wattvorgabe zu halten, fingen dann wieder die Krämpfe an. Da ich ja jetzt wusste, es geht hier um keine Zeit mehr, sondern nur ums Ankommen, war meine Strategie wie am Jaufenpass. Im unteren GA1 Bereich kurbeln, bei Krämpfen kurz anhalten und dehnen. So habe ich Schönau auch irgendwann erreicht. Flaschen wieder aufgefüllt, etwas Kleines gegessen, nochmal die Arschbacken zusammengekniffen und dann ging es auf die mir bekannten letzten 12 Kilometer hoch zum Timmelsjoch. Und ich wusste ja, erst 2 km flach(er), dann 8.7 km bis zum Tunnel bergan mit im Schnitt 7%, und dann wäre es eigentlich geschafft. Genau diesen Teil bin ich ja die Tage zuvor bei schönstem Wetter abgefahren. Schien mir machbar…

Aber bei Verlassen von Schönau fing es dann auch noch an zu regnen. Bergauf sicher kein großes Problem, aber wie würde es bergab Richtung Ziel? Naja, erstmal alles nehmen wie es kommt. Ändern kann ich ja nichts dran. Wie schon gewohnt, ging es auch das Timmelsjoch im Rhythmus GA1/kurz anhalten/dehnen hoch! Als dann endlich nach gut 45 Minuten die letzten 4 Kehren mit den Trikots vor mir lagen, war ich mir eigentlich sicher, das wird auf jeden Fall ein Finish, auch wenn ich die letzten 4 Kehren (ca. 2.5 km) bis zum erlösenden Tunnel schieben müsste.

Ich konnte aber mein Stopp and Go beibehalten, und nach gut über 1 Stunde seit Schönau war der Tunnel in Sichtweite. Auch wenn es immer windiger, nebeliger und regnerischer wurde, war ich sowas von happy, das vermeintlich Schwierigste gepackt zu haben. Zumindest dachte ich das an dieser Stelle. Ich wusste ja nicht, was noch wirklich kommt. Die letzte sanfte Steigung vom Tunnel bis zum eigentlichen Gipfel im Schneeregen und bei Nebel war dann nur noch Formsache.

 

Auch hier Regenjacke/Mütze/Handschuhe übergezogen und bei Schneeregen ab in die Abfahrt. Was hier nach Vergnügen klingt, war leider das Horror-Highlight für mich beim diesjährigen Ötzi. Der Schneeregen schlug wie Nadelstiche im Gesicht ein. An eine Brille war nicht zu denken, dann hätte ich gar nichts mehr gesehen. Also im wahrsten Sinne des Wortes Augen zu und durch. Leider konnte ich es nicht einmal nur Rollen lassen. Die klatschnasse Straße zwang mich ständig auf der Bremse (Gott sei dank Scheibenbremsen!) zu bleiben. Recht schnell waren meine Klamotten komplett durchnässt und bei um die 0 Grad bergab im Wind echt kein Spaß mehr. Für mich sehr grenzwertig! In der allerletzten Steigung von 2 km zur Mautstelle schlugen die Krämpfe nochmal so richtig und erbarmungslos zu.

Die total ausgekühlte Muskulatur hatte absolut Zero Kraft mehr. Ich habe mich den Anstieg hochgequält und im dichten Nebel plötzlich tatsächlich die Mautstelle erblickt. Ab hier geht’s wirklich nur noch bergab. „Das muss ich irgendwie hinbekommen. Hier aufzugeben wäre das Bescheuertste, was mir passieren kann.“ – waren meine letzten Gedanken, bevor es dann am ganzen Körper zitternd die letzten Kilometer, auch hier zunächst nur auf der Bremse stehend, bergab Richtung Ziel ging.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war Sölden in Sicht und selbst auf den allerletzten Metern bis zum Ziel konnte ich meine Freude und Erleichterung nicht zeigen. Meine Augen waren durch das Blinzeln im Schneeregen quasi eingefroren, und ich konnte sie kaum richtig öffnen. Ein Föhn wäre schön gewesen, der mein Gesicht mal wieder hätte auftauen können.

Im Ziel schnell eine „Wärmedecke“ genommen und ohne Umweg auf mein Zimmer, was Gott sei Dank nur 300 Meter entfernt lag. Klamotten ausgezogen und fix unter die erlösende, warme Dusche. Aber ich war so unterkühlt, ich spürte gar nicht, ob das Wasser kalt oder schon warm war. Anschließend ins Bett unter 2 Bettdecken gelegt und erst nach 1 Stunde habe ich mit Zittern aufgehört, und es kam ganz ganz langsam wieder Leben in den alten, geschundenen Körper!

 

Das war mein erster und hoffentlich nicht letzter Ötztaler Radmarathon!

Fazit 1: Wegen 2 individueller Fehler, falsches Pacing am Haiminger Berg und die schlecht organisierte Verpflegung von Kühtai zum Brenner, konnte ich nicht das umsetzen, was ich geplant hatte und aufgrund der Trainingsdaten auch hätte leisten können müssen. Aber vor allem ab dem Jaufenpass war das Ganze eine mentale Höchstleitung für mich! Die Erkenntnis, dass ich auf mentaler Ebene über meinen eigenen Erwartungen gefahren bin, ist langfristig gesehen vielleicht sogar mehr wert, als eine optimale Fahrt ohne jegliche Probleme…

Fazit 2: Es gibt noch Luft nach oben und ich habe eine Rechnung mit dem Ötzi offen, die hoffentlich irgendwann auch beglichen werden kann… Nächstes Jahr. Hoffentlich dann ohne Schnee. Und vereistem Gesicht.

Ein paar Zahlen zum Event:

Strecke: 235 km
Höhenmeter: ca 5.500 m
4 Pässe:
Haiminger Berg – Kühtai: ca 19,5 km – 1340 HM – 6,9%
Innsbruck – Brenner: ca. 36 km – 797 HM – 2,2%
Jaufenpass: ca. 15 km – 1100 HM – 7,5%
Timmelsjoch: ca. 26 km – 1734 HM – 6,7%
Anmeldungen: ca. 4.000
Starter: (nur) ca. 2800 (Wetterprognose lässt grüßen)
Finisher: ca. 2.200 (Zeitlimit wurde vielen wegen längerer Strecke und mehr HM schon am Brenner zum Verhängnis)

Andre Grunow

Über den Autor Andre Grunow

Dem Rennrad Virus seit 2014 verfallen, seit 2015 auf ZWIFT. Dabei aber auch immer wieder draußen zu finden, entweder im Trainingslager auf Mallorca oder aber irgendwo in Deutschland auf schönen Routen unterwegs. Andre ist Genuss-Fahrer, der kaum eine Eisdiele auslassen kann. Eis ist die Hauptenergie zum Fahren. Lieblingsrouten: Auf Mallorca die Mallorca 312 und in Oberitalien Mendel- und Jauffenpass. Seit 2015 auch immer wieder Teilnahmen an Rennrad-Jedermann Rennen. Sportlich schönstes Erlebnis: München – Gardasee nonstop. Sportlich anstrengendstes Erlebnis: 24h ZWIFTen. Schwerpunkt auf ZWIFT: Sprints (aktuelle FTP 339 Watt) mit max. 1.700 Watt.. Aufgrund des Eiskonsums leider nur max 3.9 W/kg.